Interview mit
Hans Magnus Enzensberger
am 13. September 2007 in München
im Rahmen der Auricher Wissenschaftstage

Herr Enzensberger, können Sie sich zu Beginn dieses Gesprächs zu Ihrer Schul- und Universitätszeit äußern?

Da ist auf der einen Seite der Deutschunterricht. Zwangslektüre ist fatal. Es ist wichtig, dass man nicht nur liest, weil man es muss. Man sollte den Leuten mindestens die Wahl lassen, dass sie sich z. B. selbst ein Gedicht aussuchen. Vor dem Kino habe ich nach dem Film „Vom Winde verweht“ vier bis fünf Leute angesprochen und sie gebeten, mir die Handlung des Films zu erzählen. Dabei stellte ich fest, wie verschieden die Nacherzählungen waren. Sanktionen, Noten – das ruft Widerwillen bei den Leuten hervor.

Aus seiner Schulzeit behält man drei bis vier Lehrer in guter Erinnerung, und die, die man gehasst hat, natürlich in schlechter – die anderen sind verschwunden. Aber auf diese drei kommt es dann an – ich hatte auch solche. In Mathematik hatten wir erst einen Lehrer, der nicht gut war. Später hatten wir einen, der war etwas überqualifiziert, aber der sagte nicht, für das Problem x wird Formel y eingesetzt, sondern er sagte uns, warum das so ist und wozu das gut ist, und dann gibt es die verschiedenen Lösungswege dazu: „Probiert mal, ob ihr da noch eine andere Tour findet.“ 

Das hatte einen gewissen Charme. So ist das in jeder Schule – es wäre schon Zufall, wenn es an einer Schule keinen solchen Lehrer gäbe.

An den Universitäten ist das genauso, da gibt es die großen Langweiler, und man muss sich die heraussuchen, die etwas bringen. Heute ist das etwas schwieriger. Früher hat man ja à la carte studiert: “Altertumswissenschaften, da gehe ich mal hin. Und wie wäre es damit: Religionswissenschaften, hier ist ein Theologe, der spricht über Marxismus, das müssen wir uns mal anhören.“ So hat man damals studiert. Vier Jahre lang hat kein Mensch gefragt, was man da eigentlich treibt. Heute sind die Studiengänge stark reglementiert. Aber es gibt ja verschiedene Universitäten und ein wenig Spielraum. Im Notfall kann man immer noch weggehen ins Ausland und sich anschauen, wie es dort aussieht.

So wie Sie es gemacht haben. Sie sind ja auch viel gereist.

Das hat ein wenig andere Gründe. Mein Jahrgang – der durfte nicht raus. Das vergessen die Leute meistens. Das war wie die Mauer. Aus Deutschland herauszukommen war ja praktisch nicht möglich. Das Geld konnte man nicht umtauschen, Pass, Visum, das alles war sehr schwierig. Die einzige Möglichkeit, nach Paris zu kommen, war mit den Stiefeln. Und das war auch nicht besonders verlockend. Deswegen war das Bedürfnis herauszukommen natürlich riesig nach dem Krieg., und da war es ja auch nicht so leicht, denn da hatte man wieder keine Hilfe, kein Geld, die Reichsmark war nichts wert, und die Deutschen waren nicht gerade beliebt im Ausland. Aber ich habe Glück gehabt – ich kam schon viel heraus.

Sind Sie aus Deutschland gegangen, weil Sie Deutschland nicht mochten und weil beispielsweise in Kuba ein anderes Lebensgefühl bzw. eine andere Lebensqualität herrschte?

Inzwischen ist Deutschland ja ein durchaus bewohnbares Land. Aber das war nicht immer so. Es war erst einmal ein Trümmerhaufen nach dem Krieg. Das stimmt schon, dass es nicht angenehm war. Wenn man 1945 über die Straße ging, war es so etwas von unvorstellbar, niemand hätte es für möglich gehalten, dass das jemals wieder etwas wird. Heutzutage ist es ja nichts Besonderes, dass man herumreist. Ich habe mich mal in einer Schulklasse erkundigt und festgestellt, dass von 30 Schülern 20 bereits in New York waren.

Reisen hat ja heute auch eine andere Qualität als früher.

Das haben Sie doch selbst in der Hand. Es gibt ja ältere Leute, die beschweren sich darüber, dass die Kinder so verwöhnt sind, nie ein Problem haben und immer für sie gesorgt wird. Diese Reden hat es aber immer schon gegeben, die Lobreden der vergangenen Zeiten. Das halte ich für absolut unsinnig. Die Menschen ändern sich doch nicht alle zehn Jahre so stark. Es ist dumm, wenn man den heute Lebenden vorwirft, dass es wirtschaftlich besser ist als früher. Sie können ja auch nichts dafür, dass sie eine Badewanne und einen Kühlschrank haben. Deswegen gehen sie auch nach New York, es ist ja nicht mehr so teuer, und wie du reist, ist ja deine Sache. Ich kenne verwöhnte Kinder, die fahren nach Peru und übernachten dort im Hochland, die brauchen eine Herausforderung. Aber wenn sie in New York im Hotel sind und die Dusche funktioniert nicht, beschweren sie sich und sie sind wieder die Verwöhnten. Das macht doch nichts – man kann doch beides.

Ich habe gelesen, dass Sie Songtexte auf Spanisch geschrieben haben.

Das waren kleine Sachen, ich war ja viel in Spanien. Ich habe über spanische Geschichte geschrieben, spanische Gedichte übersetzt und wohnte gern in Spanien. Dann war ich auch viel in Lateinamerika, ich war ein ganzes Jahr in Kuba, und da bekam man schon einen gewissen Zugang, aber normalerweise schreibe ich auf Deutsch. Das ist so ein kleines Extra, dass man mal einen Essay auf Englisch schreibt.

In Kuba waren Sie in den 1970er Jahren?

1969/1970 war das.

Waren Sie dort, weil Sie das politische System interessiert hat?

Ich komme ja aus der linken politischen Kultur, und da gab es welche, die hatten ihre Bücher und Theorien, aber sie wollten nicht so genau hinschauen, wie es z. B. in Bulgarien oder Russland ausgesehen hat. Ich hielt den Sozialismus für keine schlechte Idee, aber ich wollte wissen, wie es wirklich aussieht. Also habe ich mir das alles angeschaut und war eine Zeitlang in Moskau, in der alten Sowjetunion. Ich habe dann verstanden, dass das alles nicht funktioniert – in Osteuropa, Polen gab es schon die ersten Aufstände gegen das kommunistische Regime. Mir war klar, dass das nichts mehr wird, und warum nicht – weil die Russen unheimlich Druck aufbauten. Da habe ich gedacht, jetzt mache ich noch mal einen letzten Test und gehe dahin, wo die Leute das selbst gemacht haben. Auf Kuba waren mindestens 80 % der Leute dafür, es gab keine Panzer, keine Geheimpolizei. Ich habe mir das alles von oben bis unten angeschaut, die Zuckerrohrernte mit der Machete, bei der die normalen Kubaner eingesetzt waren, und habe sehr genau beobachten können. Zu meinem Verdruss musste ich feststellen, dass es auch dort nicht funktionierte, vor allem, weil es einen Menschen gab, der alles besser wusste, nämlich den Herrn Castro. Er war Experte für schlechterdings alles und hielt endlose Reden. Ich habe ihn einmal drei Stunden eine Rede über Viehzucht halten hören, er war „Experte“ für Kühe. In der Praxis habe ich gesehen, wie Sachen in den Sand gesetzt wurden. Zum Beispiel wurde angeordnet, Kaffee anzubauen, da es zu wenig Kaffee gab, und ein alter Bauer äußerte sich darüber: „Ihr seid komisch. Seit Generationen weiß das jeder, dass hier kein Kaffee wächst. Aber uns hört ja keiner zu. Der Allwissende weiß es besser als wir.“ Das ist nur ein Beispiel. Das ist Diktatur, wenn einer immer alles besser weiß. Bei Widerspruch wird der, der was sagt, hinausgeworfen. Somit gibt es kein Feedback. Das kann nicht gut gehen. Dann wurde das Regime verstärkt, es gab die Geheimpolizei, das kannte ich schon aus der Sowjetunion. Es hätte mir vielleicht gefallen, wenn es geklappt hätte. Aber nie wird was draus, also hat es keinen Zweck. Am Kapitalismus gibt es viel auszusetzen, man hatte sich über vieles geärgert. Aber Kapitalismus und Demokratie sind nicht dasselbe. Die Chinesen haben inzwischen Kapitalismus ohne Demokratie, und die Gegensätze zwischen Arm und Reich sind wesentlich schlimmer als bei uns.

Können Sie sich vorstellen, dass einige Ihrer Zeitgenossen nicht sehen wollten, dass es nicht funktioniert?

Man wurde natürlich auch beschimpft von den lieben Genossen, aber darauf kann man ja keine Rücksicht nehmen. Da gibt es z. B., dass jemand etwas gesagt hat. Zum Beispiel wenn Herr Strauß sagt: „Eine Wiese sollte mindestens zweimal im Jahr gemäht werden.“ Und ich sage zufällig den gleichen Satz, so ruft gleich jemand: „Du bist auf der Seite von Strauß.“ So geht es nicht.

Und Sie machen in den nächsten ein, zwei Jahren Abitur? Die Indianer wurden früher gequält, die mussten richtig Schmerzen ertragen. Initiationsritus nennt man das, denen wurden die Zähne angefeilt, da mussten sie durch. So etwas Ähnliches ist das Abitur auch. Ein Student darf ja schon etwas mehr. Sozialisation nennt man das. Da müssen alle durch.

Welche Meinung haben Sie zur Lehrerausbildung?

Das Problem bei den Lehrkräften ist, dass sie sich an der pädagogischen Hochschule mit Curriculumforschungen und irgendwelchen Lerntheorien beschäftigen, aber es wird überhaupt nicht ausgetestet, ob sie überhaupt mit Kindern umgehen können. Das kann man doch nur lernen, indem man es macht. Es ist wie Autofahren, das kann ich nicht am Tisch lernen, ich muss mich in das Ding hineinsetzen. Und dann diese Theorien von den Theoretikern, deswegen machen sie auch ständig Reformen. 

Diese Leute, die am Schreibtisch sitzen, müssen ja irgendwelche Sachen veröffentlichen – Mengenlehre, Ganzwortlesen, tausend Sachen, immer etwas anderes, und die Schulen müssen das alles mitmachen, da es von oben kommt; anstatt dass man die Schulen erst einmal in Ruhe lässt.

Ich verstehe aber auch die Lehrer nicht. Ein deutscher Lehrer ist eigentlich unkündbar. Das sieht man auch an denen, die es nicht können. Es ist unheimlich schwer, die loszuwerden. Aber wenn es schon mal so ist, brauche ich doch als Lehrer nicht das zu machen, was die mir sagen, z. B. so einen Blödsinn wie die Rechtschreibreform. Da kann doch ein Lehrer sagen: „Bei mir könnt ihr schreiben, wie ihr wollt.“ Diese blöde deutsche Rechtschreibung haben sie ja fünf Mal verändert, da würde ich mich als Lehrer querstellen und sagen, warten wir mal ab, bis die sich endlich durchgerungen und eine endgültige Formulierung gefunden haben, denn jedes halbe Jahr kann ich doch den Unterricht nicht ändern.

Lehnen Sie die deutsche Rechtschreibung denn ab aufgrund der vielen Änderungen?

Die haben ja keine Ahnung von der deutschen Sprache, diese Herren in ihren Ministerien, das weiß ich doch besser. Mir kann doch niemand erzählen, was richtig oder falsch ist – falsche Etymologien, falsche Zusammenschreibung, falsche Auseinanderschreibung. Inzwischen mussten sie ja auch zurückkriechen, weil sie so ahnungslos waren in Kommissionen, die kein Mensch gewählt hat, die haben überhaupt keine Legitimation, diese Leute. Die wollen mir erzählen, wie man deutsch schreibt? Entschuldigung!

Zum Beispiel das „ß“. Es gehört zur deutschen Sprache dazu, es sieht im Schriftbild auch ganz gut aus.

Aber es muss nicht sein. Die Schweizer haben es seit fünfzig Jahren abgeschafft. Überhaupt kein Problem. Die Probleme liegen in der falschen Zusammenschreibung, Auseinanderschreibung. Lesen Sie doch mal die Kommuniqués von diesen Leuten. Die können doch keinen deutschen Satz herausbringen, diese Ministerialbeamten. Die können es einfach nicht. Das ist nur eine Nebensache, denn wer will mir verbieten, so zu schreiben wie ich will – niemand. In meine Manuskripte schreibe ich manchmal hinein „Nicht nach Duden!“. Dann wird es nicht nach Duden gesetzt.

Sie haben dann auch die Möglichkeit, es so zu veröffentlichen?

Selbstverständlich habe ich die. Ich kann Ihnen ein Beispiel erzählen. Es gibt das deutsche Wort „Eigenbrötler“. Ein Eigenbrötler ist ein Typ, der sich seinen eigenen Stiefel machen will und sich nicht hinein reden lässt. Dieses Wort ist ein altes deutsches Wort, das aus einer Zeit stammt, in der man das Wort „Brot“ mit „d“ geschrieben hat, und deswegen wird der Eigenbrötler mit einem „d“ geschrieben. Das haben die natürlich normalisiert, aber das ist ja sinnwidrig, weil der Eigenbrötler gerade derjenige ist, der darauf besteht, ein Eigenbrötler zu sein, der wird bei mir nicht nach Duden geschrieben. Das sind Kleinigkeiten, eine Arabeske, man muss schon selber denken. Der Eigensinn hat ja keinen besonders guten Ruf. Dabei finde ich, es spricht doch einiges für den Eigensinn.

Man hat mal über Sie gesagt, Sie seien ein zorniger junger Mann gewesen. Haben Sie das eher als Kompliment aufgefasst?

Ich finde, dass man sich solche Etiketten im Allgemeinen nicht ankleben soll. Wenn die schon so etwas veröffentlichen, steht es den anderen zu, zu sagen, wie sie den finden. Anders ist es, wenn er es selber sagt. Aber selbst Beschimpfungen sind nicht unbedingt glaubwürdig. Dann sollen doch die sagen, der ist ein Linker, der ist kein Linker. Mit der Zeit gibt es die merkwürdigsten Dinge, die man sich anhören muss. Ich sage dazu gar nichts, nur, dass das in den Zeitungen steht.

Ärgern Sie sich darüber?

Beim ersten Buch ist man noch dünnhäutig. Man ärgert sich, wenn es jemand schlecht findet. Man muss sich eine gewisse Hornhaut anschaffen. Das, was die Journalisten schreiben, ist in einer Woche Altpapier, sie müssen sich dann nicht mehr rechtfertigen. Ich habe meine Erfahrung mit Literaturkritik gemacht. Jede Rezension ist doch eine kostenlose Anzeige: Dieses Buch existiert.

Eine schlechte Kritik ist also besser für die Verkaufszahlen?

Das ist nicht bestätigt. Es werden 3.000 – 4.000 tausend Exemplare weniger abgesetzt, auf dem Bankkonto macht das 5.000 € weniger durch diese schlechte Rezension. Es ist eine bestimmte Nüchternheit.

Der Buchhalter eines Verlages ist auf eine schnelle Nummer aus. Aber ein Verleger sagt, ich muss einen Autor erst einmal aufbauen, ich muss erst investieren, auch wenn es nicht so toll läuft. Dann habe ich das Copyright. In dem Moment, in dem das Buch nicht mehr lieferbar ist, kann der Autor die Rechte zurückrufen. Dann hat der Verleger nicht mehr die Möglichkeit, ein zweites zu verkaufen.

Bei den meisten Verlagen sind die Titel nur 2 – 3 Jahre lieferbar. Der Suhrkamp-Verlag hat eine Besonderheit, er hat eine Warteliste, auch ältere Titel sind noch lieferbar. Durch diese Strategie hat er einen Riesenhaufen an Copyrights, und irgendetwas geht immer. Zum Beispiel kam plötzlich Walter Benjamin, ein Philosoph, in den 1970er/80er Jahren wieder in Mode und alle reden von Walter Benjamin. Oder es wird ein altes Werk von Martin Walser – „Ein fliehendes Pferd“ – verfilmt, die Rechte sind beim Suhrkamp-Verlag – und das Filmrecht ist sehr teuer – und der Verlag kassiert. Das ist eine andere Strategie, aber kaufmännisch nicht ganz dumm. Nur die Buchhalter wollen das schnelle Geld.

Lesen Sie auch?

Ja, Lesen ist ein Laster, das ist wie Rauchen, es hat auch Nebenwirkungen gezeigt. Ich war 20 Jahre lang Verleger und habe auch eine eigene Reihe gemacht. Ich musste unheimlich viel lesen. Man musste 20 Bücher anschauen, um eines herauszubringen, und das ist eine gute Quote. Ich lese ja wahnsinnig schnell. So ein kleines Büchlein, das lese ich nach dem Abendessen nach der Tagesschau durch. Etwas anderes ist es, wenn man z. B. ein Buch über Topologie liest. Die wissenschaftlichen Sachen dauern ein wenig länger.

Lesen Sie auch wissenschaftliche Bücher?

Ja, ich lese auch Sachbücher. Aber ich bleibe der ewige Dilettant, ich bin ja kein Experte. Man kann sich aber reinknien. Ich werde jetzt wahrscheinlich ein Buch über Fusionsenergie schreiben. Nicht nur die Sache interessiert mich, sondern auch die Leute. Ich kann ihnen alles aus der Nase ziehen. Da ist auch ein bisschen Hochstapelei dabei, wenn Sie mit Experten zu tun haben. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Sie, wenn Sie es mit einem Experten zu tun haben, z. B. einem Hirnforscher oder Partikelforscher, nur ein Minimum an Vokabular brauchen, es muss nicht gleich Latein sein. Ein Wort wie „Differentialdiagnose“ genügt, das haut sofort rein. Wenn der andere die Hoffnung schöpft, dass Sie ihn verstehen, dann legt er los. Sie müssen ihm auch die Möglichkeit geben, dass er denkt, mit dem kann man sich ja unterhalten. Sie sind ja auch nicht unvorbereitet hier. Sie haben mir die Höflichkeit erwiesen sich vorzubereiten. Da redet man ja auch, das macht Spaß.

Schüler äußern sich auf Anfrage zu ihren Zukunftsplänen (Studium z. B. im Bereich Germanistik, Naturwissenschaften, Ökotrophologie).

Wenn man Germanistik studiert, besteht die Gefahr, dass man Lehrer wird. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen das Lehrerdasein ist, kein Staatsexamen zu machen. Das habe ich auch so gemacht. Aber die Hauptsache ist, dass ihr euch nicht langweilt. Nur langweilige Leute langweilen sich.

Wir haben die Idee der möglichst vollkommenen Sicherheit. Viele Generationen haben das stark verinnerlicht, wir sind ein überversichertes Volk. Der Glaube, dass man sich gegen alles versichern kann, ist allerdings im Schwinden begriffen.

Wie steht es mit der Gegenwartsliteratur?

Damit sieht es gar nicht mal so schlecht aus. Die 1980er Jahre waren ziemlich dürftig. Wenn drei bis vier tolle Leute auftauchen, reicht es aus. Es gibt schlechte Zeiten, da kann man nichts machen.

Es gibt Schriftsteller, die ausgebrannt sind. Es gibt viele Westentaschengenies, viele unerträgliche Künstler.

Aber es gibt im Moment einige gute. Zum Beispiel hat sich ein Schriftsteller hingesetzt und über Wissenschaftler geschrieben. Er hat 1,2 Millionen Hardcoverexemplare verkauft. Das Publikum kann erst auftauchen, wenn ihm etwas geboten wird. Der Roman ist mittlerweile ein Massenmedium, damals gab es die Fortsetzungsgeschichte in Zeitungen, als es noch keinen Fernseher gab. Das Fernsehen ist als Medium zur Unterhaltung besser, z. B. gibt es Serien, die auf irgendwelchen Gutshöfen spielen.

Der Vulkaniseur, der möchte Fernsehen gucken. Der kommt da nicht mehr raus, dass muss man doch verstehen.

Es gibt viele, die ihren Job hassen.

Man sollte keine falschen Erwartungen an das Fernsehen stellen. Als Beispiel sei genannt eine Reportage über Pelargonien.

Stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, in der alle Proust lesen, das wäre doch nicht gesund. Es gibt mehr Fußballzuschauer als Proustleser.

Ich bin im Bereich Sport ein Analphabet. Eine Gesellschaft wie die deutsche ist eine Gesellschaft von Experten. Wer hat wann gegen wen welches Tor geschossen.

Es gibt Zwergwissenschaften, z. B. Sammler von Zündholzschachteletiketten. Darüber gibt es Kataloge. Wenn man den Zeitschriftenmarkt analysiert, da gibt es Zeitschriften für Sammler, Frauenzeitschriften, Hobbys. Es gibt z. B. eine Drahthaardackelzeitschrift.

Zum Chatten habe ich keine Zeit.

In der Schule sollte man eine Fragestunde einführen, in der Lehrer verschiedener Fachrichtungen – Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, Praxislehrer – sich den Fragen der Schüler stellen.

Herr Enzensberger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

Schüler: Wiebke Janssen, Wiebke Smit (Gymnasium Ulricianum Aurich)
Maren Ihnen (BBS I Aurich), Jan Schoone (BBS II Aurich)
Lehrkräfte: Brigitte Klaaßen (BBS II Aurich)
Helmut Ubben (Gymnasium Ulricianum Aurich)