Am 8. September 1998 hatten Maike Albers, Wera Janssen, Bianca Janssen und Thorsten Garrels die Gelegenheit, mit dem Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt in den Räumen des Hamburger Pressehauses ein Interview zu führen. Sie wurden begleitet von den Lehrern Klaus Schüßler (BBS II) und Alexander Stracke (Ulricianum).

Herr Schmidt, Sie waren von 1974 bis 1982 „leitender Angestellter der Republik“, wie Sie sich selber genannt haben, und haben sich auch in der Zeit danach immer wieder zu welt- als auch zu nationalpolitischen Themen geäußert. Welche Probleme muß die neue Bundesregierung lösen? Wo muß sie Prioritäten setzen?

Das akute Problem, unter dem Deutschland im Augenblick leidet, ist eine Massenarbeitslosigkeit. Diese Massenarbeitslosigkeit ist nicht durch irgendein Patentrezept zu verringern. Die Gründe für die Arbeitslosigkeit sind vielfältig. 

Sie haben sich eingefressen im Laufe langer Jahre, und es bedarf einer Reihe von Rezepten gleichzeitig, um sie langsam zu überwinden. Da die Operation insgesamt sehr viel Zeit erfordern wird, muß in meinen Augen die neue Bundesregierung schnell anfangen mit der Lösung der verschiedenen Probleme, die ich gleich nennen werde.

Das erste Problem liegt in einer ungewöhnlich hohen Staatsquote. Der Anteil des Staates am Bruttosozialprodukt liegt heute bei beinahe 50%, teilweise darüber. Dies ist zu hoch. Man kann ihn nur dann verringern, wenn man Ausgaben des Staates abbaut. Der Ausdruck Sparen, Sparpakete, wird vielfach öffentlich benutzt, ist aber nicht ganz korrekt, denn hier soll ja nicht Geld gespart werden, sondern es soll weniger Geld ausgegeben werden. Selbst wenn Bund, Länder und Gemeinden weniger Geld ausgeben als bisher, werden sie immer noch einen Teil ihrer Ausgaben durch Kredite finanzieren müssen, d. h., sie leihen sich Geld von Privatpersonen und geben es aus für staatliche Ausgaben. Wenn sie also etwas weniger ausgeben, sparen sie kein Geld, sondern sie nehmen in Zukunft weniger Kredite auf.

Im Zusammenhang damit steht die Steuergesetzgebung. Das ist das zweite große Feld. Man hört viel von Steuersenkung in der Öffentlichkeit. Das meiste davon ist Geschwätz. Man kann Steuern nur dann senken, wenn man gleichzeitig die Ausgaben des Staates senkt. Wer nur von Steuersenkung redet, ohne von Ausgabensenkung zu reden, ist ein Schwätzer. Die Mehrheit der Leute, die sich heute öffentlich äußern, sind in diesem Sinne Schwätzer. Es gibt heute keinen Chef einer großen Firma, sagen wir der Nordseewerke in Emden oder der Meyer-Werft in Papenburg, der selber noch übersehen kann, welche Steuern sein Unternehmen zahlen muß. Die Steuergesetzgebung ist so kompliziert und so undurchsichtig geworden, daß weder der Chef einer großen Werft noch ein Handwerksmeister seine Einkommensteuererklärung alleine ausfüllen kann. Die Steuergesetzgebung ist uferlos und undurchsichtig geworden, nicht zuletzt wegen einer Reihe von aus Gefälligkeitsgründen eingebauten steuerlichen Ausnahmen. Wenn man sämtliche steuerlichen Ausnahmen über Nacht streichen könnte, dann könnte man auch über Nacht die Steuersätze senken. Insgesamt ist es, um Arbeitslosigkeit zu dämpfen, um neue Arbeitsplätze entstehen zu lassen, notwendig, daß der kleine Mittelstand, der Handwerksmeister, der Friseurmeister, der Dachdeckermeister, der Maurermeister, übersehen kann, welche Steuern er eigentlich zahlen soll.

Drittes Feld. Die Zahl der Gesetze in Deutschland ist so groß geworden, so unübersichtlich und es sind so viele eingebaute Konflikte da, daß die Zahl und Dauer der Prozesse vor Verwaltungsgerichten, vor Finanzgerichten, vor Arbeitsgerichten unerträglich geworden ist. 84.000 Paragraphen, das heißt, Deutschland ist überreguliert. Insbesondere haben wir in tausend Paragraphen Genehmigungserfordernisse eingebaut. Jemand, der eine Garage errichten möchte oder auch nur einen Carport in seinem Garten, bedarf dazu einer Genehmigung. Und wenn er Glück hat, kriegt er die Genehmigung, ohne daß er vorher ein statisches Gutachten hat einreichen müssen. Alles ist in Deutschland genehmigungsbedürftig. Und so wie die Deutschen beschaffen sind, werden die meisten dieser Paragraphen auch ernst genommen. Insofern sind wir schlechter dran als Italien. Da gibt es genauso viele Paragraphen, aber die werden nicht ganz ernst genommen. Es gibt zwei Länder, in denen die Überregulierung tatsächlich die Entstehung neuer Firmen und damit neuer Arbeitsplätze behindert, das sind Frankreich und Deutschland.

Das vierte Feld ist die Überregulierung auf den Arbeitsmärkten. Diese wird im wesentlichen nicht durch Bundesgesetze, sondern durch Vereinbarungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften herbeigeführt. Die beiden mächtigsten sind der Arbeitgeberverband Gesamtmetall und die Industriegewerkschaft IG Metall. Auf Antrag erklärt der Bundesarbeitsminister einen Tarifvertrag, den die beiden Partner miteinander ausgehandelt haben, für allgemeinverbindlich. Gegenwärtig sind in Deutschland über 900 Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt worden, darunter allein vier für das Friseurhandwerk im Lande Niedersachsen. Das bringt mich auf ein weiteres Beispiel für Überregulierung. Wenn sie als junge Frau ihre Friseurinnenlehre abgeschlossen und ihre Meisterprüfung gemacht haben, dann können sie einen Laden aufmachen, aber sie werden Zwangsmitglied der Handwerkskammer und der Innung. Warum? Weiß der Kuckuck. Weil es schon im Mittelalter so gewesen ist. Und sie werden gezwungen, Zwangsbeiträge abzuführen. Viele junge Leute weigern sich, den Betrieb ihres Vaters zu übernehmen, weil sie Angst haben, mit den Behörden nicht fertig zu werden.

Eine der wichtigsten Aufgaben, um Arbeitsplätze entstehen zu lassen, ist die Entwicklung modernster Techniken, nicht nur hinsichtlich der Produkte, sondern auch der Produktionsverfahren. Software für eine Großcomputeranlage können sie heute in Walldorf bei Heidelberg kriegen (SAP; Anm. der Redaktion), sie können sie bei Siemens kriegen; sie können sie bei mehreren Firmen in Deutschland kriegen. Sie können sie auch in Indien kriegen. Dann ist sie ungefähr nur ein Drittel so teuer. Die Inder haben nämlich denselben Intelligenzquotienten wie die Europäer. Die Europäer wissen das bloß nicht, aber die Inder sind bereit, dieselbe Leistung zu vollbringen für eine wesentlich geringere Entlohnung. Das gilt nicht nur für Software. Das gilt schon lange für Automobile, das gilt schon lange für Schiffe. Der Schiffbau in Deutschland ist zusammengebrochen, weil erst die Japaner und später die Koreaner und inzwischen so ziemlich alle in der Lage sind, dieselben Massengutfrachter und dieselben Tanker zu bauen wie wir, aber billiger, für geringere Löhne. Jetzt ist ein leichter Aufschwung im deutschen Schiffbau zu verzeichnen, weil die inzwischen lernen, Dinge zu machen, die die anderen noch nicht können. Meyer in Papenburg baut zum Beispiel Fährschiffe und Kreuzfahrtschiffe so gut, wie die anderen es noch nicht können. Das dauert aber bloß ein paar Jahre, dann können die das auch. Dann muß Meyer sich was neues einfallen lassen. Das ist ein typisches Beispiel dafür, daß in diesem Hochlohnland mit seinen sehr hohen Sozialleistungen, die ja finanziert werden müssen vom Steuerzahler, unser Lebensstandard nur aufrechterhalten werden kann, wenn wir Dinge machen, die einstweilen die Indonesier oder Koreaner oder Chinesen noch nicht können. Das dauert nicht lange, dann können sie das auch. Und dazu wäre notwendig, daß die deutschen Forschungseinrichtungen erstklassige Ergebnisse liefern. Das tun sie auch, aber nur zum Teil. Sie waren früher besser als heute. Auch sie sind behindert durch tausend Genehmigungserfordernisse. Wenn einer bei uns Gen-Forscher ist, dann ist es eine 50 zu 50 Wahrscheinlichkeit, daß er nach einigen Jahren nach Amerika geht. Da kann er nämlich frei arbeiten. Bei uns kommen die Grünen und sorgen dafür, daß alles unter Genehmigungsvorbehalt gestellt wird. Die Forschung ist in Deutschland vernachlässigt worden. Insbesondere die natur- und medizinwissenschaftliche Forschung bedarf dringend der Förderung. Der Staat hat sie vernachlässigt, die Unternehmen haben auch ihren Forschungsaufwand zurückgefahren. Und natürlich beruht die Forschung letzten Endes auf einer erstklassigen Universitätsausbildung. Die gibt es in Deutschland nicht. Die deutschen Universitäten sind bestenfalls Weltdurchschnitt.

Jetzt habe ich Ihnen eine Reihe von Feldern andeutungsweise genannt – es fehlen noch viele –, die alle beackert werden müssen, wenn man will, daß wieder neue Arbeitsplätze entstehen. Es gibt kein Patentrezept. Jemand, der ein Patentrezept auf den Tisch legt, ist entweder ein Idealist, der von der Sache nichts versteht, oder ein Betrüger.

Herr Schmidt, ich möchte gerne auf das Thema Jugend eingehen. Es ist eine traurige Tatsache, daß die Jugendarbeitslosigkeit zunimmt und Jugendarmut ein immer häufiger benutzter Begriff ist. Worin liegen Ihrer Meinung nach hierfür die Ursachen und was wären entsprechende Gegenmaßnahmen?

Die Ursachen für die Jugendarbeitslosigkeit sind keine anderen als für die Arbeitslosigkeit im allgemeinen. Da gibt es keine Besonderheiten zu erwähnen. Aber Ihr kommt aus Ostfriesland. Dann will ich mal etwas sagen, das Euch nicht gefallen wird. Ostfriesland liegt außerhalb des Kernbereichs der deutschen Industrie. Und wenn jemand am Rande liegt, das gilt nicht nur für Aurich oder Emden, das gilt auch für Wilhelmshaven, dann muß er Dinge machen, die sehr viel intelligenter sind, als sie die anderen machen, denn die Randlage erschwert ihm seinen Zugang zum Markt. Die Randlage erfordert zusätzliche Transportkosten, einmal für die Rohmaterialien und für die Zulieferung für seine Produkte, zum anderen um sein Fertigprodukt am Markt dahin zu bringen, wo die Kunden sitzen. Und wenn er also keine erstklassigen, herausragenden Produkte liefern kann, dann muß er zufrieden sein mit geringeren Löhnen und Gehältern, um wettbewerbsfähig zu sein. Einer der schwersten Fehler, den man im Lauf der letzten Jahrzehnte gemacht hat, war die Tariflöhne für Ostfriesland auf das Niveau von Stuttgart zu heben. Die Löhne, die IBM, Daimler Benz und Bosch im Großraum Stuttgart mühelos zahlen konnten, konnte Olympia in Wilhelmshaven eben nicht zahlen, ohne kaputt zu gehen. Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, die ein bißchen die Jugendarbeitslosigkeit verringern können, aber eben nicht dauerhaft. Wenn man zum Beispiel ein allgemeines soziales Jahr einführt – ich wäre durchaus dafür zu haben. Das entlastet den Arbeitsmarkt von arbeitssuchenden jungen Leuten ein wenig, aber eben nicht durchgreifend, nicht dauerhaft. Das macht dann Sinn, wenn man im übrigen auf all den anderen Feldern, von denen ich sprach, die bisherigen Hemmnisse beseitigt, die der Schaffung neuer Arbeitsplätze entgegenstehen.

Was würden Sie den kommenden Schulabgängern, gerade in Bezug auf dieses Thema, als Ratschlag mit auf den Weg geben?

Meine Empfehlung für jeden einzelnen jungen Mann oder junge Frau ist zu lernen. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wird härter, und viele Abiturienten enden nachher als kleine Angestellte. Das ist ja nichts Schlechtes, aber vielleicht haben sie sich ja etwas ganz anderes vorgestellt, solange sie noch in der Unterprima saßen. Jemand, der im Jahre 1999 Abitur macht oder im Jahr 2000 und nicht in der Lage ist, fließend Englisch zu sprechen und zu verstehen und mindestens noch eine weitere Sprache einigermaßen zu sprechen und zu verstehen, sagen wir Spanisch – heute in zwanzig Jahren würde ich sagen Chinesisch – der taugt nicht für seinen Beruf … Er taugt dann zur Friseurin, das ist in Ordnung. Aber er taugt nicht, um zum Beispiel eines Tages Software zu schreiben für die Computer seiner Firma. Ohne fließend Englisch kann kaum einer von den jetzigen Abiturienten erwarten, über das Niveau eines mittleren Angestellten jemals hinauszusteigen in seinem Leben.

Ich wage einfach zu behaupten, daß jede Generation mit spezifischen Problemen leben mußte und noch muß. Oft wird uns noch gesagt: „Wir hatten es früher doch viel schwerer als ihr heute!“ Wie würden Sie das konkret beurteilen?

Das ist prinzipiell richtig. Aber das hilft Ihnen überhaupt nichts. Infolgedessen können Sie es wieder beiseite schieben. Jemand, der zu Zeiten von Adolf Nazi Soldat werden mußte, hatte ein schwierigeres Leben. Damals wurden sie mit 16 Jahren eingezogen. Viele von den damals 16-jährigen, die 1944 eingezogen wurden, sind mit einem Bein wiedergekommen oder überhaupt nicht. Oder denken Sie an die Eltern dieser Jungen, die in Hannover oder sonstwo im Luftschutzkeller gesessen haben und verschüttet worden sind. Also, das ist schon richtig, die hatten es schwerer als die heutige Generation. Das gilt übrigens nicht nur für die heutigen Jugendlichen, das gilt auch für die heutigen Politiker. Weil sie es nicht schwer genug gehabt haben, sind sie nicht mehr so gut wie die Politiker der 50er und 60er Jahre. Sie sind nicht durch das Feuer gegangen. Nun kann man niemandem vorwerfen, daß er nicht durch das Feuer gegangen ist. Hat er Glück gehabt, wenn er nicht durch das Feuer brauchte! Und deswegen nützt ihnen diese ganze Debatte über das verschiedene Schicksal der Generationen nichts.