Anwesende:

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck; Referentin des Bundespräsidenten a.D. Susanne Galle; Oberstudienrat a.D. Josef Antony; Oberstudienrat Dr. Matthias Busker; Studienrat Daniel Künzel; Bjarne Janssen (BBS2 Aurich, Jg. 12), Victoria Faber (BBS2 Aurich, Jg. 12); Hanno Lüpkes (Gymnasium Ulricianum Aurich, Kl. 11a), Matthias Holm (Gymnasium Ulricianum Aurich, Klasse 11a), Benjamin Kotterba (Gymnasium Ulricianum Aurich, Klasse 11a)

Antony: Erinnern Sie sich an die Wissenschaftstage? Da waren Sie Leiter der Behörde und haben eine Ausstellung dazu mitgebracht.

Gauck: Ah, ja, jetzt dämmert es so langsam. Das ist interessant. 

Antony: Und heute Morgen waren wir im STASI-Archiv.

Gauck: Ach, in der Normannenstraße?

Antony: Ja.

Gauck: Ja, eine ferne, fremde Welt. Die war für uns, als ich in eurem Alter war, nicht fern, sondern höchst nah und bedrückend. Gerade für die jungen Leute war das eine ziemlich harte Zeit. Jetzt höre ich erstmal noch ein bisschen von diesem ganzen Projekt. Erzählt mal, seit wann gibt es dieses Projekt mit den jungen Leuten.

Antony: Ich habe es vor 31 Jahren gegründet.

Gauck: Herzlichen Glückwunsch!

Antony: Und, es ist immer gut gegangen, weil ich immer einen guten Mentor an meiner Seite hatte, das war Professor Treusch. Joachim Treusch, mit dem ich immer noch verbunden bin, war ja auch Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich, dann war er Präsident in Bremen, der Jakobsuniversität, und jetzt ist er Ehrenpräsident der Heraeus-Stiftung. Und jetzt haben wir Folgendes gemacht: wir haben Zeugen der Zeitgeschichte interviewt in den letzten 25, 27 Jahren und dieses Interview...

Gauck: … und immer mit den Schülerinnen und Schülern?

Antony: Ja, und auch Richard von Weizsäcker.

Gauck: Das waren dann die Eltern von denen. (lacht)

Antony: (lacht) Und Band eins ist fertig, der wird gerade gedruckt. Sie bekommen selbstverständlich ein Buch, und Band zwei beginnt mit Ihnen.

Gauck: Ja, dann würde ich Sie beide einmal bitten, sich vorzustellen.

Busker: Ja, mein Name ist Matthias Busker und ich bin Lehrer am Beruflichen Gymnasium der BBS2 in Aurich und Mitorganisator der Auricher Wissenschaftstage, seit acht oder neun Jahren mit dabei und betreue sozusagen Schülerinnen und Schüler, wenn sie ins Praktikum fahren, wenn sie aus dem Praktikum zurückkommen, und bin auch abends bei den Vorträgen entsprechend hilfreich mit dabei.

Künzel: Mein Name ist Daniel Künzel, ich bin Lehrer am Gymnasium Ulricianum, auch in Aurich. Sie hören schon, ich bin nicht direkt ein Ostfriese. Ich stamme ursprünglich aus Oberfranken und ich nehme zum ersten Mal an diesem Projekt teil.

Victoria: Hallo, mein Name ist Victoria Faber, ich gehe auf das Berufliche Gymnasium, bin im Jahrgang zwölf und Herr Busker ist mein Lehrer.

Benjamin: Ich bin Benjamin Kotterba, gehe auf das Gymnasium Ulricianum Aurich und bin sozusagen in der Politik- und Geschichtsklasse von Herrn Künzel.

Bjarne: Ich bin Bjarne Janssen, gehe zusammen mit Victoria auf eine Schule und Herr Busker ist ebenfalls mein Tutor.

Hanno: Ich bin Hanno Lüpkes, bin jetzt 16 jahre alt und auch bei Herrn Künzel in der Geschichts- und Politikklasse, mit Bejamin und Matthias zusammen.

Matthias: Ich bin Matthias Holm und gehe mit den beiden (zeigt auf Benjamin und Hanno) in eine Klasse und Herr Künzel ist unser Lehrer.

Bjarne: Als erstens hätten wir einmal die Frage: Wie sieht denn so ein Alltag bei Ihnen aus als ehemaliger Bundespräsident und immer noch bedeutende Persönlichkeit?

Gauck: Ja, es gibt zwei Arten von Alltag. Einen, da bin ich “nur” Rentner, meinem Alter entsprechend. Ich stehe nicht Punkt 7 Uhr auf, esse spät Frühstück und lese lange Zeitung. Ich bin ein begeisterter Zeitungsleser und habe auch einen Garten, da mache ich draußen was, bewege mich ein bisschen oder fahre mit dem Fahrrad zum Bäcker. Und abends schaue ich ein bisschen fern, meistens politische Sendungen, weniger Talkshows, mehr Dokus und Nachrichten. Dann gehe ich ins Bett, lese sehr lange, dadurch stehe ich dann am nächsten Tag wieder spät auf. So, das ist der eine Alltag. Der andere ist, als wäre ich noch im Job, entweder als ein selbstständiger Vortragsreisender oder, als wäre ich noch Präsident. Also, da gibt es unterschiedliche Formate, die ich mache. Vor zwei Jahren habe ich ein Buch geschrieben über Toleranz und daraus sind viele Lesungen und Veranstaltungen erwachsen. Dann gibt es Einladungen, die ich annehme. Ich bin dieses Jahr zum Beispiel Gastprofessor an einer Uni, zuletzt an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, und halte dort Vorlesungen. Leider muss ich auch Einladungen ablehnen, Meine Mitarbeiter im Büro müssen sehr viele Absagebriefe schreiben. Aber ein Teil ist eben wie früher, als ich noch Präsident war, und manchmal gibt es eben die Einladungen, für die ich ins Ausland reise. Dann wird es auch mal stressiger. Reisen, arbeiten, vorbereiten und mit den Mitarbeitern sprechen.

Hanno: Haben Sie denn in Zukunft noch weitere Ziele, wie Sie sich politisch engagieren wollen oder was Sie noch machen wollen?

Gauck: Ich habe noch ein bisschen Kraft übrig. Das wusste ich vorher nicht, als ich mich entschlossen habe, nur eine Amtszeit zu machen. Ich möchte aber nach wie vor, dass bestimmte Themen in der Öffentlichkeit weiterhin oder auch stärker debattiert werden. Und ich mag es nicht, wenn sich das Land radikalisiert, wenn es hysterisch wird oder in Angst verfällt, ohne, dass es hinreichende Gründe für das Ausmaß an Angst gibt. Und dann mische ich mich ein. Zum Beispiel habe ich das Buch „Toleranz“ veröffentlicht, weil ich nicht wollte, dass unser Land da endet, wo Amerika jetzt ist. Feindschaft zwischen den großen politischen Lagern. Überhaupt, kaum noch Brückenbauer, die bis in die Familien oder Freundeskreise hineindringen. Ähnlich sehen wir das in unserem Nachbarland Polen, das ich im Übrigen sehr wegen seiner Freiheitstradition schätze: Dort besteht eine ganz bittere Feindschaft zwischen den beiden politischen Lagern. Und das wollte ich nicht sehen in Deutschland. Die Situation ist anders, aber das aufgeheizte Klima im Netz, besonders mit den ganzen Beschimpfungen und der Rohheit, die es gibt, bis hin zum Fanatismus. Aus diesem Fanatismus entstehen sogar Mordtaten. Da habe ich mir gedacht, dass ich mich einmischen und für Toleranz kämpfen will. Toleranz ist ein schwieriges Thema, jedoch wusste ich nicht, wie schwierig es ist. Das habe ich erst gemerkt, als ich das Buch schrieb. So, und das ist zum Beispiel etwas, mit dem ich jetzt unterwegs bin. Oder ich bin eingeladen. So werde ich demnächst in Kopenhagen sein, da bin ich auf der der Sacharow-Konferenz, benannt nach einem großen Menschenrechtsaktivisten. Der verstorbene Menschenrechtler Andre Sacharow soll mit der Konferenz noch einmal in das Gedächtnis gerufen werden. Und heute Abend geht es auch um einen Menschenrechtspreis. Ich empfange hier heute einen Afrikaner, Daniel Bekele, der Menschenrechtsbeauftragter in Äthiopien ist und heute den Preis der Afrika-Stiftung bekommt. Themen wie Menschrechtsfragen, Toleranz, Demokratie, das Infrage stellen der Demokratie beschäftigen mich sehr, und insofern mische ich mich ein. Das mache ich aber nicht im Sinne einer bestimmten Parteipolitik, sondern ganz allgemein, um für den Wert und für die Grundwerte unserer liberalen und offenen Gesellschaft zu kämpfen. Also, insofern bin ich noch aktiv, aber nicht mit Ämtern ausgestattet.

Benjamin: Sie sagen in Ihrem Buch: „Toleranz, einfach schwer“, man müsse alles tolerieren, was rechtskonform ist. Wie funktioniert dies jedoch, wenn es im Widerspruch mit den Regeln des eigenen Glaubens steht? Als Beispiel der Abbruch der Schwangerschaft bis zur zwölften Woche, wie es in Deutschland unter bestimmten Einschränkungen erlaubt ist.   

Gauck: Das ist ein sehr gutes Beispiel, weil es so schwer ist.  

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Reise mit Herrn Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Benjamin: Als Diskrepanz haben wir dazu die Nächstenliebe gewählt. Wie stehen Sie dazu?  

Gauck: Ich bin ein evangelischer Christ, der in diese Debatte nicht so stark involviert war oder ist., Als gläubiger Mensch finde es nicht richtig, das werdende Leben ohne zureichenden Grund zu unterbinden. Und ich kann die Menschen verstehen, die dagegen kämpfen. Gleichzeitig bin ich als Christ dazu angehalten, auch die Rechtsordnung, in der wir leben, zu achten. So gibt es eine gesetzliche Regelung, die eine Abtreibung straflos stellt, wenn man gewisse Beratungsregeln einhält. Oder es liegt eine medizinische oder kriminologische Indikation vor.  Ansonsten ist der Schwangerschaftsabbruch für alle Beteiligten strafbar. Ich möchte, dass über solche Dinge debattiert wird, gerade solche heiklen Themen, wie den Schutz des Lebens. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Sichtweisen. Es gibt Menschen, die der Meinung sind, es muss das Grundrecht der Frau bleiben, über einen Abbruch der Schwangerschaft zu entscheiden. Das kann ich in dieser Grundsätzlichkeit nur schwer nachvollziehen, weil es hier nicht nur um ein Individuum geht, sondern auch um den Beginn eines anderen Lebens. Ganze Generationsketten haben aus einem besonderen Empfinden heraus, insbesondere die Mediziner und Philosophen, Abtreibung abgelehnt. Dass wir nun in einem liberalen Staat einen anderen Weg gehen, muss ich mit Mühe nachvollziehen, wenn es sich nicht um die Fälle handelt, in denen der Schutz der Mutter- etwa nach einer Vergewaltigung- ebenfalls in Betracht gezogen werden muss Aber dieses Beispiel zeigt gut, wie Toleranz zu einer Zumutung werden kann. Später kommen wir dann noch zu Arten von Toleranz, die noch haariger sind als eine Zumutung. Tolerieren heißt eben nicht im Kern akzeptieren, das kann es heißen, muss es aber nicht.

Matthias: Wir haben noch eine andere Frage. Sie sagten bereits, dass Sie gerne Zeitung lesen, und somit sozusagen auch politisch aktiv bleiben. Wie stehen Sie zu der Aussage, Sie seien ein Selbstdarsteller und sollten sich endlich in den Ruhestand begeben, welche die Zeitung „Neues Deutschland“ getätigt hat? Wie gehen Sie mit einer solchen Kritik um?   

Gauck: (lacht) Darüber lache ich eher. Diese Zeitung ist eine sozialistische Tageszeitung, es ist die alte Zeitung der SED. Und des Weiteren finden sich viele „rote“ Reaktionäre bei den Autoren und Lesern dieser Zeitung. Deren Meinung ist für mich wenig maßgeblich, und wenn die nach Selbstdarstellern suchen, dann finden die in ihrem Milieu wunderbare Prototypen für Selbstdarstellung. Ich gehöre zu denen, die aus der deutschen Geschichte gelernt haben, nämlich, dass die Aufarbeitung einer belasteten Vergangenheit sehr wichtig ist. Und, dass „Schlussstrichdenken“ verhängnisvoll ist. Es gab lange Auseinandersetzungen, als Ihre Eltern jung waren, nicht nur an den Universitäten, sondern weit darüber hinaus, dass in den Anfängen der BRD während der Ära des Kanzlers Adenauer, die Nazi-Vergangenheit nicht richtig aufgearbeitet wurde. Und eine große Wut entstand in meiner Generation, als sie jung war, gegenüber diesem Verschweigen und Vertuschen von Verantwortung während der Diktatur. Daraus haben wir nach 1990 im Osten gelernt, dass es eine andere Form der Aufarbeitung gibt, die nützlich ist. Denn „Schlussstrich“ stellt immer die besser, die Unterdrücker waren. Diesen einfachen Grundsatz haben wir angelegt bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Das haben diejenigen, die diese Diktatur zu verantworten hatten, natürlich nicht gerne gesehen. Diese hätten das Schweigen bevorzugt und die Akten lieber geschlossen. Wäre das passiert, hätten wir, die Unterdrückten, nicht gewusst, was unsere Unterdrücker an Monopolwissen über uns hatten, durch die Geheimpolizei oder STASI, gerade im Bereich dieser Publizistik hat es sehr viel Nostalgie gegeben und anständige Demokraten haben diese Zeitung nicht besonders ernst genommen. 

Während des Interviews – Die Schülerinnen und Schüler hatten Gelegenheit, ihre Fragen an Herrn Gauck zu richten

Victoria: Ich würde gerne wissen, ob es in Ihrer Amtszeit Entscheidungen gab, welche sie bereuen?  

Gauck:  Als Bundespräsident ist man ja nun keine Instanz, die unmittelbar entscheidet. Allerhöchstens trägt man Entscheidungen mit, in der Form, dass man die Gesetze, die der Bundestag mehrheitlich beschließt, bevor sie in Kraft treten, unterzeichnet. Das ist ein Rechtsakt, bei dem der Bundespräsident eine Rolle spielt. Da der deutsche Präsident aber nicht gehalten ist, ein Korrektiv der Politik zu sein, er ist keine Ersatzregierung, darf sich seine Prüfung nur darauf beziehen, ob das Gesetz gemäß der Verfassung verabschiedet wurde oder auf Rechtsfehler, die das Gesetz offensichtlich verfassungswidrig machen. Nun sind die Abgeordneten und ebenso die Ministerien nicht ganz ohne juristischen Sachverstand. So gelingt es ihnen in aller Regel, die Gesetze so zu formulieren, dass sie nicht mit dem Grundgesetz kollidieren und entsprechend der gesetzlichen Vorgaben entstanden sind. Wenn ein Bundespräsident denen nun sagt, dass sie nicht sorgfältig genug waren, so wird er zuallererst eine Rückfrage machen und im allerschlimmsten Falle seine Unterschrift verweigern. Das ist aber bei mir nicht vorgekommen, ich hatte zweimal Rückfragen zu Gesetzen. Ich habe mich auch nie in der Rolle gesehen, ein Korrektiv gegen die Mehrheitsbildung in der Regierung zu sein. Auch deshalb habe ich, in meiner Präsidentschaft, Äußerungen oder Handlungen nicht zu bereuen. Davor war ich Abgeordneter in der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR, für Bündnis90, landete also in der Opposition, und da ich dann mit den STASI-Unterlagen so ein Spezialgebiet zugewiesen bekam, gehöre ich zu den Autoren dieser Regelung, die STASI-Akten offenzulegen. Ganz besonders für die, die früheren Opfer waren. Und das habe ich nun schon gar nicht zu bereuen. Obwohl daraus natürlich viel Streit entstanden ist, einer war Spitzel und der andere war Opfer. Der eine hat die Spitzel kommandiert und bezahlt, der andere hat das erlitten, was die gemacht haben. Nach einer Diktatur wird es immer gewachsene Widersprüche geben, die auch besprochen werden müssen. Da gibt es auch ein „Richtig“ und ein „Falsch“, und es gibt oft auch ein „Gut“ und „Böse“. Das sind in der Politik eben nicht nur Fehler, sondern man nimmt auch Schuld auf sich, und wenn du nicht darüber sprichst, und eine Gesellschaft nicht auch darüber streitet, dann passiert auch zu wenig. Dann gibt es vielleicht eine Friedhofsruhe oder ein befohlenes Schweigen, aber gut, das habt ihr alles nicht gefragt, aber ich beschreibe mal, dass wenn ich so meine politischen Tätigkeiten überblicke, jetzt nicht sagen könnte, das oder jenes muss ich zurücknehmen. Das ist immer so, wenn du länger im Geschäft bist, gibt es mal einen Halbsatz oder ein Wort, wo du sagst, „Naja das hättest du mal lieber nicht gesagt“, diese Risiken bleiben nicht aus, aber grundsätzliche Entscheidungen würden mir da nicht einfallen. 

Hanno: Und wie sind Sie mit dem psychischen Druck umgegangen? In der „T-Online Zeitung“ haben Sie einmal darüber gesprochen, dass es für Sie schon ein psychischer Druck war, dass Aussagen in Ordnung waren und sie nicht hätten kritisiert werden können.

Gauck: Ich bin, bevor ich Präsident wurde, sagen wir, in einer freieren Situation gewesen. Ich war freischaffend, als Autor oder Vortragsreisender, also als, wenn Sie so wollen, politischer Lehrer, bin ich umhergezogen und ehrenamtlich war ich Vorsitzender der Vereinigung „Gegen Vergessen, für Demokratie“. Das ist eine überparteiliche Bürgervereinigung, die zum Ziel hat, das Unrecht und die schlimme Zeit der Nazi-Diktatur, aber auch der kommunistischen Diktatur, nicht zu vergessen, und gleichzeitig für unsere demokratische Gesellschaft einzutreten, gegen Vergessen, für Demokratie. Seitdem ich Bundesbeauftragter für die STASI-Unterlagen geworden bin, bin ich parteilos. 

Damit will ich beschreiben, dass ich ein relativ freier Typ war, ich konnte im Grunde sagen was ich wollte. Wenn du aber das höchste Staatsamt hast, bist du in dieser Weise nicht mehr frei, sondern dann sind deine persönlichen Äußerungen immer auch die Äußerungen einer Instanz. Und diese Instanz ist eigentlich Deutschland. Ich bin nicht die Regierung, sondern ich repräsentiere die gesamte Republik in dieser Aufgabe als Bundespräsident. Daraus ergibt sich, dass du eben mit besonderer Sorgfalt auf deine Redeweise achten musst, oder welche Inhalte du vertrittst. Es muss auch konsistent und passend sein, es muss zur Grundüberzeugung des Staates und zu mir als Person passen. Da kann man auch nicht fünfe gerade sein lassen, sondern da wirst du manchmal festgenagelt auf einen Halbsatz. Dies ist sehr anstrengend. Ich liebe das freie Wort und ich habe früher, als ich evangelischer Pastor war, meine Predigten immer frei  gehalten. Ich hatte mir eine Gliederung gemacht, aber ich habe immer frei gesprochen. Meine politischen Vorträge habe ich immer frei gehalten. Und dann als Präsident musste ich vorsichtshalber alles ablesen und alleine dies ist einem Typ wie mir sehr ungemütlich. Das ist das eine. Psychischer Druck kann auch dadurch entstehen, dass du dich anders bewegen musst, du wirst plötzlich sicherheitseingestuft, das heißt, du bist plötzlich eine Person, die damit rechnen muss, dass aus den großen Zahlen von verwirrten Menschen oder politischen Gegnern Aggressionen gegen dich geplant oder Anschläge auf dich verübt werden. Das heißt, du musst dich an eine ständige Begleitung von Personenschützern gewöhnen. Und ich bin kein Typ, dem es gefällt, immer umgeben zu sein von Menschen, die meine Sicherheit garantieren. Das ist schon gewöhnungsbedürftig. Auch, dass du dich dann einfach nicht mehr so äußern kannst, frei und offen.  

Aus all dem ist schon eine gehörige Anspannung erwachsen und das wollte ich nicht verbergen, sondern das wollte ich zeigen. Die Menschen sind nämlich nicht nur durchgängig stark, sondern starke Menschen haben ebenso eine Psyche und die kann mitunter auch angefasst und belastet werden durch äußere Dinge. Und das waren ja eigentlich gute Dinge, die mir widerfahren sind. Wenn du Präsident wirst, ist dies eine sehr hohe Ehre und es ist schon interessant, dass man diese Ehre freudig und dankbar annimmt, aber gleichzeitig akzeptiert, dass sich die Lebensformen verändert. 

Signierstunde – Nach dem Interview hatten die Teilnehmer noch die Gelegenheit, ihre mitgebrachten Bücher von Herrn Gauck signieren zu lassen

Bjarne: Gut, da hätte ich noch die Frage, inwiefern das Leben in der DDR ihr Verständnis von Toleranz geprägt hat?

Gauck: (lacht) Hauptsächlich von Intoleranz. (die Runde lacht) In meinem Buch über Toleranz beschreibe ich auch, ab wann tolerante Menschen intolerant werden sollen, und das ist immer dann, wenn die Freiheit oder die Rechtsordnung oder Hass zur Norm gemacht werden und das, worauf unsere Gesellschaft basiert, angegriffen oder gar negiert wird. Dann müssen wir auch intolerant werden, dann muss auch mal Schluss sein mit Verständnis. In der DDR bin ich aufgewachsen in einem repressiven System, also der Druck der Herrschenden hat uns nicht erlaubt, eine ganz normale Bürger Existenz zu leben und das klingt jetzt merkwürdig, aber wenn du keine Bürgerrechte hast, dann erlebst du auch nicht, was das ist. Es gibt das alte französische Wort „citoyen“, das ist der Mensch, der berechtigt ist, seine eigenen Interessen selbstbestimmt und ohne Furcht zu vertreten und sich mit anderen zu verbünden, um seine Ziele zu verfolgen. Dieses Recht können wir in den demokratischen Gesellschaften durch die Bildung von Vereinen, Gewerkschaften und Parteien sowie durch unser Wahlrecht dokumentieren. Auch durch unsere Meinungsfreiheit und Demonstrationsfreiheit. Nun könnten wir uns jedes Recht anschauen und gucken, ob es in der Demokratie oder in der DDR gewährleistet wurde und wenn wir diese Vergleiche machen, sehen wir diese enormen Defizite, und zwar auf allen Gebieten, wo Bürger Bürgerrechte haben. Also, du hast nicht mehr das Recht, deine freie Meinung zu sagende Religionsausübung wird nicht gerade verboten, aber eingeschränkt. Die Erlaubnis, dich zu versammeln in Vereinen ohne Zustimmung der Oberen gibt es nicht. Du kannst jetzt alle Rechte praktisch durchgehen und findest Defizite und vor allem darfst du deine Menschen, die dich regieren, nicht in freien Wahlen wählen. So, und wenn du das alles erlebst, erlebst du ein intolerantes Gesellschaftssystem und wenn du dann dagegen opponierst, bist du auch intolerant, das ist aber okay, denn gegenüber Intoleranten darf man intolerant sein. Es fragt sich nur, ob es etwas bringt, wenn du in so einem System lebst und deshalb ist die Mehrheit der Menschen in aller Regel nicht mit der Kraft und dem Mut ausgestattet, Gegenprogramme zu leben, und die Menschen trachten dann danach, auf die sichere Seite zu kommen und wollen die Zukunft sicher haben, Sicherheit für ihre Kinder schaffen und sie passen sich an. In Diktaturen ist es so, ohne Anpassung wirst du in Schwierigkeiten geraten, wirst du vielleicht deinen Beruf verlieren oder deine Kinder können kein Abitur machen oder bestimmte Aufstiegswege kannst du nicht mehr gehen, sondern du wirst geblockt. Je mehr du dich anpasst, desto reicher und größer werden deine Möglichkeiten. Darum gibt es in Diktaturen das, was wir aus alten Gesellschaften der Fürsten kennen, dass der Untertan durch Gehorsam in die Oberschicht aufsteigen kann und diese Art nennt sich dann nicht „gehorsam“, sondern die nennt sich dann „überzeugt“, sagen zu allem „ja“ und „amen“. Zu allem Überfluss werden einige insgeheim noch zu Helfern der Geheimpolizei, um ihre Mitmenschen auszuspionieren und das ist dann natürlich eine ganz besondere Form von Loyalität. Wenn du in die Staatspartei eintrittst, dann werden dir beruflich keine Schwierigkeiten gemacht, es sei denn, du redest zu offen und kritisch. Wenn du aber bereit bist, dem Geheimdienst zu dienen, dann hast du alle Möglichkeiten. Was dein Gewissen jedoch dazu sagt, ist ein anderes Kapitel. Toleranz lernst du dann eigentlich in der Familie oder sonst irgendwo. Ich erzähle immer, wenn ich mit jüngeren Leuten zusammen bin, wie du, praktisch, ohne, dass du den Begriff kennst, schon eingeführt wirst in die Lebenswelt von Toleranz. Ich war ältestes Kind von vieren und der älteste Sohn, war der „King“ in der Familie, und die anderen haben natürlich zu tun, was du sagst, das ist ja auch völlig klar für den Ältesten, und wie die anderen das jetzt finden ist eine andere Kiste. Dann findest du das schön, wenn du der Boss bist und die Lütten beherrschen kannst, aber es könnte sein, dass du Eltern hast, oder Oma und Opa, oder andere Lehrer, die dir dann sagen: „Hör´ mal zu, du bist hier vielleicht der Große, aber die anderen sind genauso viel wert wie du, und es ist an der Zeit, das einmal zu kapieren.“ Der Sinn bestand darin, in diesem jugendlichen Leitwolf nun einen Respekt gegenüber denen zu erzeugen, die nicht so stark sind wie er, aber genauso viel wert sind wie er. Es sagt also keiner: „Junge, es gibt da sowas, das nennt sich Toleranz und jetzt bist du so und so“, sondern im Vollzug von ganz normaler mitmenschlicher Erziehung lernst du den Respekt vor anderen und dann gibt es Situationen in Schulklassen, wo Kinder gehänselt wurden, weil sie behindert waren oder wenn alle Fußball spielen und einer spielt Geige, da ging es halt gegen den, und dann gehört sich das auch nicht, und die bringen dir dann schon bei, was Respekt ist, vor dem, der ein bisschen anders ist. Deshalb kommt es in diesen normalen Lebensvollzügen, die wir in Familien und Schulen haben, schon zu einem Erwerben dieser Haltung von Toleranz in unser Leben hinein, bevor wir die Begriffe miteinander debattieren. Also beides, das eine, wovon ich eben gesprochen habe, passiert immer unabhängig von der herrschenden Gesellschaftsform, aber dass du so eine besondere Anleitung zur Intoleranz in dein Gemüt und in deine Haltung reinbekommst, das ist schon auch eine Folge von Diktatur und wir sehen auch Unterschiede zwischen ostdeutscher und westdeutscher Gesellschaft immer noch, weil du durch diese Prägung zum „Schwarz-Weiß-Denken“, die eben entsteht in einer Diktatur, einen vereinfachten Blick auf die Konflikte der Gegenwart hast. Und darum haben wir im Osten sehr viel mehr Menschen, die unsere Demokratie nicht akzeptieren, in der man Sachen aushandelt, in der es nicht nur „schwarz“ oder „weiß“ gibt, sondern verschiedene Formen von Kompromissen gefunden werden zwischen ganz unterschiedlichen politischen Meinungen. Das ist eine kulturelle Entwicklung, die nicht selbstverständlich ist, das gibt es nur in freien Gesellschaften. In diesen durchherrschten Gesellschaften gibt es nur uns oder die, unten oder oben, schwarz oder weiß und zum Teil haben manche diese Haltung mitgenommen aus der alten Zeit, denn viele der älteren Ostdeutschen reagieren, wenn ihnen etwas nicht gefällt, mit totaler Ablehnung. Erst haben sie also Linksaußen-Parteien gewählt und dann nach 90’ Rechtsaußen-Parteien und kommen sich dann großartig vor, weil Widerstand, haben sie ja früher gelernt, etwas Edles und was Gutes war. Jetzt aber zu begreifen, wir sind in einer völlig anderen, einer offenen demokratischen Gesellschaft, die euch alle Rechte gibt, anders als früher, haben sie wohl nicht mitbekommen. 

Matthias: Sie sprachen gerade eben schon einmal von Toleranz und führten am Ende auch schon ein behindertes Kind an. Dazu haben wir dann noch eine Frage zu und zwar: „Wie stehen Sie zum Thema „Inklusion“ und finden Sie, sie sollte, gerade in unserer heutigen Gesellschaft, gefördert werden?“

Gauck: Ja, das finde ich schon. Also ich kann mich noch an Situationen erinnern, übrigens auch in der DDR, wo die behinderten Menschen keine besondere Rolle hatten, sondern eher Nebensache waren und der kommunistische Staat hat gerne die Behinderten in kirchliche Einrichtungen abgeschoben, weil wir in den kirchlichen Einrichtungen einfach einen anderen Stil hatten, mit Menschen mit Behinderungen umzugehen, den die Gesellschaft noch nicht hatte. Heute lernen wir mehr und mehr, dass wir die Andersartigkeit von behinderten Menschen nicht zum Anlass nehmen dürfen, sie auszugliedern. Jetzt sind wir gerade in so einem Versuchsfeld, wo es nicht ganz einfach ist, die richtigen Wege zu gehen, also ja, ich bejahe Inklusion, aber nein, ich bin nicht dafürr, alle Fördereinrichtungen deshalb abzuschaffen. Denn ich kenne einfach zu viele Lehrerinnen und Lehrer, die in der normalen Schule dastehen mit schwerbehinderten Kindern und da kommt zwar manchmal eine Begleitung, aber erstens ist die nicht immer da, bei jeder Behinderung, und zweitens entsteht manchmal bei einer bestimmten Art von Behinderung nicht das Gefühl in einem Kind von Zugehörigkeit, sondern ein Minderwertigkeitsgefühl, weil es sich vergleicht mit Kindern, die andere Gaben haben. Deshalb braucht man sehr viel Geduld und Einfühlungsvermögen, um nun zu wissen, welcher Grad von Inklusion jetzt eigentlich der nützliche ist für das behinderte Kind etwa oder den behinderten Jugendlichen. Darum habe ich eine gewisse Scheu davor, ganz pauschal zu sagen: „Alle rein in die Regelschulklassen!“. Ja, solange es den Menschen hilft und nützt, aber nicht, wenn man ihnen zusätzliche Lasten auferlegt

Angeregte Unterhaltung – Nach dem Interview bestand noch die Gelegenheit zum persönlichen Austausch

Benjamin: Sind Sie der Meinung, dass es eine falsche Toleranz bei deutschen exekutiven Behörden gibt oder Instanzen?

Gauck: (lacht) Eigentlich nicht. Also, dass wir in der Gefahr sind, an der falschen Stelle tolerant zu sein, das glaube ich schon. Das wird immer mal wieder passieren und vielleicht sollte ich an dieser Stelle mal einfügen, dass uns Toleranz ganz verschieden begegnet. Es gibt eine Toleranz, da stehen wir dem andern so gegenüber, der ist anders als ich, aber ich respektiere ihn völlig und anerkenne ihn auch. Ich bin evangelisch, also ich möchte gar nicht katholisch werden. So, gleichzeitig habe ich aber, anders als viele meiner Vorfahren, nicht die Einstellung, dass der Katholik „falsch“ ist, sondern das sind meine Herzensgeschwister. Die sind mit mir zusammen glaubende Menschen und suchen aus dem Glauben heraus Sinnstiftung für ihr Leben und opfern sich auf, wenn es irgendwie geht, und das gefällt mir. Und deshalb sind sie anders, und gleichzeitig bin ich ihnen gegenüber voller Respekt. Wenn ich einer Partei gegenüberstünde, die ich von Herzen ablehne, das ist zum Beispiel die AfD, ja, ich kann die nicht ausstehenund, ich finde die verzichtbar. Ich will die auch nicht anerkennen, sondern ich möchte die bekämpfen, und dann streite ich mit denen, und ich habe gedacht, solange dieser Streit nach Regeln abläuft, fasse ich das noch unter Toleranz und nenne diese Form des Streites „kämpferische Toleranz“. Also kämpfen nach Regeln, wie der Boxer, der will nicht töten, sondern siegen. Er kämpft nach Regeln und so soll es auch im Politischen sein. Dann gibt es noch eine andere Form von Toleranz: Da stehen sich zwei Gleichmächtige gegenüber, können einander nicht besiegen, das hatten wir mal früher, kommunistische Welt und demokratische Welt, die Form der friedlichen Koexistenz. Beide hoch gerüstet, keiner mochte den anderen, keine Anerkennung, aber um des Friedens Willen leben wir nebeneinander und dulden uns, obwohl wir uns nicht mögen. So das ist dann praktisch Koexistenz. Deshalb, es gibt verschiedene Formen von Toleranz, von einer geregelten Ablehnung bis zu einem vollen Respekt des anderen. Falsche Toleranz ist beispielsweise, wenn wir gegenüber Rechtsextremen, die jetzt in der Partei zum Beispiel sind, von der ich eben gesprochen habe, wenn wir so tun, als sei das normal, wenn einer da Nazisprüche loslässt. Das ist nicht normal, und da sind wir schon dicht an der Volksverhetzung. Da dürfen wir dann auch unsere Polizei hinschicken und den Staatsanwalt. Das heißt, irgendwo hört es eben auf mit der Toleranz, und deshalb brauchen wir, gerade, wenn wir in einer Gesellschaft der Vielfalt leben, auf der einen Seite starke Signale: Wir sind solidarisch mit den Menschen, die bei uns wohnen wollen, weil sie Zuhause nicht existieren können. Das gehört dazu. Das gehört zu unserer Auffassung von Gerechtigkeit, auch zu vielen Verträgen, die wir international unterzeichnet haben. Das ist die eine Seite. Aber dann blind zu sein, wenn hier in Berlin zum Beispiel ein islamistischer Gefährder, der war wirklich bekannt, der war polizeibekannt, und man hat ihn nicht gestellt. Er hat es geschafft, mit einem LKW in Berlin auf dem Weihnachtsmarkt Menschen zu ermorden. Da gibt es ein Behördenversagen. Dasselbe wurde debattiert bei Rechtsradikalen wie dieser NSU-Zelle, die Menschen getötet hat. Das dort auch in Teilen vielleicht auch eine zu große Gelassenheit herrschte gegenüber einer Bedrohung aus dem rechten Milieu. Das gibt es, ja. Aber, das Gute bei uns ist, wir haben erstens einen starken Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten und zweitens einen starken Medienstandort mit einer sehr variablen Medienvielfalt, sodass eventuelles Fehlverhalten, auch von Behörden oder einzelnen politisch Verantwortlichen, relativ schnell entdeckt wird, scharf debattiert wird und danach korrigiert werden kann.


Hanno: Wie lässt sich Ihrer Meinung nach grundsätzlich intoleranten Menschen Toleranz lehren?

Gauck: (lacht) Ja, wenn ich das wüsste.

Hanno: Ist das überhaupt möglich? Sollte man dieses Ziel überhaupt verfolgen?

Gauck: Na ja, es ist so. Du darfst nie damit rechnen, dass alle Menschen unbelehrbar sind, sondern es gehört zu einer der Grundvoraussetzungen des aufklärerischen Denkens, dass wir denken, dass prinzipiell allen Menschen Logik und nachweisbare Zusammenhänge zu vermitteln sind. Alle Menschen sind fähig zu denken, zu zweifeln und zu vergleichen. 


Also, da wir denken, dass wir mit unseren auf Fakten und, ich würde auch sagen, auf Werten basierenden Einsichten, dass wir Menschen davon überzeugen können, gehen wir davon aus, dass wir Menschen auch aus der Festung von Intoleranz befreien können. Das können wir am besten erkennen, wenn wir an uns selber denken: „Wo war ich früher intolerant?“, oder: „Wo hatte ich ein ganz festes Vorurteil über bestimmte Menschen?“. Ich wurde großgezogen mit der Annahme, dass Homosexualität etwas Schlechtes ist. So ist es auch eine Entscheidung eines selbst, ob er tolerant sein will oder nicht, deshalb können wir Menschen auch aus ihrer Intoleranz befreien und ihnen sagen, wo es sich, lohnt intolerant zu sein, etwa gegenüber Verbrechern, Verführern, Diktatoren und allem möglichen anderen Grobzeug, was auf der Welt kreucht und fleucht.

STASI-Zentrale – Vor der STASI-Zentrale mit dem ehemaligen Landrat Walter Theuerkauf

Bjarne: Wir haben eine Frage über eine Aussage von Helmut Schmidt formuliert:

 

„Und die in China stets als dauerverletzt bemängelten Menschenrechte seien keine universellen Werte […] [sie] sind ein Erzeugnis der Ära der Aufklärung im Westen. [...] Warum sollten sie [universell] sein? [...] Dieser Drang nach Belehrung und nach Mission ist eine sehr westliche Art. So sei Amnesty Int. in der Gefahr von Arroganz und Anmaßung. Ich bin dagegen, dass die westliche Kultur sich zum Fürsprecher macht [...] für die ganze Menschheit, und in Wirklichkeit reden sie nur für einen Bruchteil der Menschheit. [...] es fehlt jeder Respekt vor der langen kulturellen Geschichte, zum Beispiel der Chinesen.“ (ARD Talk bei Beckmann, 2014)

 

Wie stehen Sie zu dieser Aussage?

Gauck: Ich bin ein absoluter Gegner dieser Auffassung. Ich kann sie nicht teilen. Irrig ist auch, dass sich in den Menschenrechten nur westliche Vorstellungen niederschlagen. Schon bei der Formulierung waren auch Asiaten dabei, aber das Allerwichtigste ist, dass wir Millionen und Abermillionen von Chinesen kennen, die durchaus wissen, was die Menschenrechte wert sind. Sie leben etwa in Taiwan und dort zeigen sie dem großen China mit dem großen Diktator an der Spitze, dass Chinesen Demokratie können. Und die haben die auch gern, die schaffen sie nicht freiwillig ab. Da gibt es keine große Volksbewegung „Wir wollen mal ganz schnell unter das große Dach der Kommunistischen Partei“, sondern sie wollen sehr gerne freie Chinesen sein, so wie die Menschen in Hongkong und auch viele, viele Menschen in der Volksrepublik China selbst. Wir haben erlebt, wie China sich jetzt anstrengt, die Freiheitsliebe der Hongkonger zu unterdrücken. Helmut Schmidt befindet sich also damit in einem Irrtum. Das, was ihr euch wirklich merken könnt: Auf der ganzen Welt träumen alle Menschen, die unterdrückt sind, die ihre Rechte, sei es als Frau, als Arbeitnehmer oder überhaupt nur als Bürger, nicht haben, von Menschenrechten. Alle. Aber die, die sie beherrschen, die sagen: „Das ist ja westlich. Das ist gar nicht unsere Kultur!“ So sprechen die Fürsten in arabischen Ländern, wo es noch normal ist, einen Fürsten über sich zu haben und Untertanen zu haben. So spricht auch China und Nordkorea. Ich bin sonst ein großer Bewunderer des Politikers Helmut Schmidt. Ich finde, dass er eine sehr wichtige Figur in der deutschen Politik ist, aber habe keinen Zugang zu dieser Aussage. Politisch und moralisch... Ich habe heute noch einen Termin bezüglich des Afrika-Preises mit Daniel Bekele. Wenn ich so etwas sehe, dieser Herr Bekele ist der Menschenrechtsbeauftragte des Parlaments von Äthiopien und hat jetzt totale Mühe, weil Menschen in Äthiopien sich in einem Bruderkrieg bekämpfen. Dann denke ich wieder an die DDR, aus der ich komme. Die haben doch tatsächlich Stasi-Leute dahin geschickt, in einer bestimmten Zeit, um den Kommunisten, die dort herrschten, beizubringen, wie man richtig Kommunismus macht. Das war eine richtige kommunistische Diktatur, bevor sich dieses Land dann verändert hat und tragischerweise ist der jetzige Regierungschef Friedensnobelpreisträger und hat jetzt ein Spruchgut drauf, wo er seine Feinde als Unkraut, Ungeziefer, Ratten und alles Mögliche bezeichnet. Das ist ganz, ganz bitter, was dort zurzeit passiert. Herrn Bekele treffe ich heute zum Abendessen, wenn er diesen Preis bekommt, den ihm die Deutsche Afrika Stiftung eben zuteilwerden lässt. Ich habe eine unheimliche Bewunderung für solche Leute, die in so schwierigen Verhältnissen sind. Noch größer ist diese für die mutigen Frauen in Weißrussland. Die eine Frau, die sich nicht ausweisen lassen wollte und jetzt im Knast sitzt, bloß, weil sie so dickfellig war, nicht ins Ausland zu gehen. Sie hat gesagt, sie möchte in ihrem Land für Freiheit kämpfen. Das ist das, was mich natürlich erbittert. Unsere Möglichkeiten als eine freiheitliche Demokratie sind dort begrenzt. Wir können da nicht überall einmarschieren und Krieg führen gegenüber diesen Lukaschenko-Typen und was es sonst noch alles gibt. Deshalb müssen wir es auf diplomatischem Wege versuchen und vor allem die Zivilgesellschaft muss versuchen, immer diese Flagge der Menschenrechte aufrecht zu erhalten und auch deren universelle Geltung. Sie soll nicht so tun, als sei das nur etwas Gutes für den Westen. 

 

Antony überreicht Gauck die Jubiläumsausgabe und es werden Fotos gemacht. 

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